Bin ich zu alt für meine erste Beziehung?

Seit COVID-19 und dem Lockdown im März/April 2020, bin ich auf TikTok unterwegs. Relativ schnell bin ich hier auch in die „Gay“-Szene gerutscht, was mir selbst in meinem eigenen Coming Out unglaublich viel geholfen hat. Was mir dort, sowie in Livestreams auf Twitch oder auf sonstigen Social Media Plattformen immer wieder auffällt, sind Jugendliche oder Teenager, die immer wieder dieselbe Frage stellen: Bin ich mit x Jahren zu alt für meine erste Beziehung? Dabei steht hier das x für ein beliebiges Alter. Und meine kurze Antwort darauf: Nein, bist du nicht.

Die ausführliche Antwort ist so simpel. Denn es ist nie zu spät. Es ist egal, ob du mit 6 Jahren im Kindergarten, 13 Jahren im Ferienlager, mit 16 Jahren auf der ersten Party oder mit 72 Jahren im Altersheim deine erste Beziehung hast. Warum? Weil du, nur du allein, das Tempo für dich selbst bestimmst. Simpel, oder?

Wir machen uns immer so unglaublich viel Druck, vor allem als Jugendliche*r oder Teenager*in scheint es um nichts anderes zu gehen, als Liebe, Sex und Beziehungen. Dieser Druck durch die Gesellschaft (=Faktoren von außen, die der vermeintlichen „Normalität“ – auch Heteronormativität[1] – entsprechen sollen) ist permanent da. „Die Alte hat leicht reden, mit ihren 31 Jahren ist sie doch viel erfahrener als ich!“ könnte man jetzt meinen. Nope. Stell dir vor, ich bin 31 Jahre alt, hatte bis zum heutigen Tag keine Beziehung und bin dennoch glücklich (und offenbar lebendig).

Unterschiedliche Tempi in der Entwicklung

Grund dafür sind verschiedene Geschwindigkeiten in der eigenen Entwicklung. Ich hatte beispielsweise mit 9 Jahren bereits meine erste Regelblutung, die meisten meiner damaligen Freundinnen im Freundeskreis erst ab 12 Jahren. Ich war rein von der biologischen Reife deutlich weiter, als andere, was aber dazu führte, dass ich mich ganz anders entwickelt habe. Ich musste mich früher als die anderen mit dem Thema Verhütung, Frauenarzt*ärztinnen-Besuche und dem „Erwachsenwerden“ beschäftigten. Ähnlich und doch anders war es in Sachen Liebe.

Bei mir spielten hier zum Beispiel Mitschülerinnen eine prägende Rolle. Als ich 8 Jahre alt war, wurde ich mit den Worten „Scheiß Lesbe“ gemobbt. Jab, mit 8 Jahren. Ich wusste nicht einmal, was das bedeuten würde. Als ich später feststellen musste, dass ich wirklich auf Mädchen stehe, war das einfach eine Katastrophe für mich. Obwohl meine Mum immer hinter mir stand. Dadurch, dass meine Mitschülerinnen immer wieder sagten, dass Lesbischsein ekelhaft wäre (was es nicht ist!), brannte sich das in meinen Kopf so unglaublich ein, dass ich meine eigene Entwicklung damit blockierte. Ich verschloss mich in den symbolischen Schrank und versteckte mich vor jeder*m.

Entwicklung und Beziehung brauchen ihre eigene Zeit

Nach meiner Schulzeit wollte ich in der Ausbildung einen Neustart schaffen. Das war 2007, also vor 13 Jahren. Funktionierte auch super, bis ich gefragt wurde, ob ich schon einmal eine Beziehung mit einem Typen hatte und es verneinen musste. Eine andere Freundin log, aus Scham. Und das ist so ein Paradebeispiel. Denn wir haben das Gefühl, wenn wir ab einem bestimmten Alter noch keine Beziehung hatten, wären wir weniger Wert. Guess what? So ist es nicht. Ich bin 31 Jahre und lebe auch noch, habe einen Freundeskreis, der mich genau so akzeptiert und vor dem ich mich selbst nicht verstecken muss. Doch auch das brauchte seine Zeit.

Für mich war das schlimmste an der Sache immer dieses „Ach, ist doch nicht schlimm“, als hätte ich jemals gesagt, dass ich es schlimm fände, noch nie eine Beziehung gehabt zu haben. Dadurch sah ich mich irgendwann in der Position, mich rechtfertigen zu müssen. Da es mich so unglaublich nervte, suchte ich im Internet nach Hinweisen, „was mit mir nicht stimmen würde“. Denn natürlich fragte ich mich selbst, warum ich nie Interesse an Typen oder eine Beziehung mit diesen hatte. Wir wissen ja, dass ich auf gar keinen Fall lesbisch sein wollte, weil „war ja ekelhaft“. So stieß ich auf „A-Sexualität“ und das schien im Umfeld deutlich akzeptierter gewesen zu sein. Das war auch der Grund, warum ich mir nicht weiter Gedanken dazu machen musste, für ganze 10 Jahre. Zu diesen Freundinnen von damals habe ich auch aus gutem Grund keinen Kontakt mehr. Ich konnte mich ungestört in meinem Schrank verstecken und kontrollieren, wen ich reinlassen würde.

Coming Out

Anfang 2010 verliebte ich mich in meine heutige beste Freundin. Sie war die erste Person, der ich das dann mal erzählt hatte und ihre Reaktion war durchweg positiv. Es hätte das große Coming Out werden können, denn ich erinnere mich bis heute an dieses befreiende Gefühl, als ich auf der damaligen Arbeit saß. Doch dann kamen wieder die Stimmen der Mitschülerinnen und zack, ich schloss die Tür des Schrankes wieder, auf dem der Zettel „ACE“[2] stand. Für 10 Jahre.

Das klingt jetzt so, als wäre in den letzten 10 Jahren alles easy gewesen. Nope. Ich sah mich immer wieder damit konfrontiert. Sei es durch Mitstudentinnen, auf die ich einen Crush entwickelte oder irgendwelche weiblichen Schauspielerinnen oder Gay-Couples. Immer wieder war ich an dem Punkt: Ups, du bist ja doch lesbisch. NEIN!, schrie ich mich dann selbst an. Um es selbst zu glauben, log ich mich weiter an. Geändert hatte sich das erst 2019 mit dem Prozess langsam zu mir selbst zu stehen und zu erkennen, dass es eben nicht ekelhaft ist. Grund dafür waren auch positive Beispiele in Serien, Filmen oder dem Football-Team (welches ich 2015 beitrat). Und erst seit Mai 2020 bezeichne ich mich mit Stolz als lesbisch (dank des COVID-19 Lockdowns und der vielen Zeit auf Gay-TikTok – hier mein TikTok-Kanal: tiktok.com/@secrets_of_rock).

Sprich über deine Gefühle

Ich fühlte mich permanent schlecht, mit 22, 25, 29 noch keine Beziehung gehabt zu haben. Hauptsächlich nur, weil andere mir das Gefühl gaben. Ein schwerer Faktor war hier auch meine Familie, die immer wieder fragte, wie es in Sachen Liebe aussehen würde. Das setzte mich zusätzlich unter Druck. Mittlerweile wissen sie, dass sie mich das nicht mehr fragen sollen. Sie meinen es nur lieb, sagten sie, weil sie sich für mich interessieren.

Für mich war wichtig, dass sie wissen, dass ich sie liebe und ihnen alles sagen werde, wenn die Zeit es so will. Für sie war es erst einmal unverständlich, weil sie daran nichts Schlimmes sahen. Ich tat mich selbst schwer, zu verdeutlichen, warum es mir wichtig war, dass ich bestimme, wann ich der Familie etwas erzähle und, dass sie sich auch keine Sorgen (warum auch?) deswegen machen müssten. Das zeigt nur, wie „wichtig“ eine Beziehung (vor allem für Frauen) offenbar in der Gesellschaft und ab einem gewissen Alter zu sein hat. Aber das ist nur etwas, dass von Außen kommt. Und das zu verstehen, brauchte auch bei mir etwas Zeit.

Ich habe in den letzten Monaten verstanden, dass ich keine Versagerin bin. Ich weiß, dass ich nicht allein bin. Ich kenne so viele, denen es ähnlich geht und sie leben auch, sind glücklich und lassen sich nicht stressen. Deswegen wollte ich euch diese Geschichte erzählen. Durch diesen Druck von außen und dann von mir selbst, blockierte ich meine eigene Entwicklung, konzentrierte mich auf andere Dinge, die für mich wichtiger waren (z.B. Studium oder Football). Seit 2019 bin ich sehr dahinter, Selbstliebe zu lernen – auch wegen meiner Mental Health. Denn die Welt da draußen kann hässlich und gemein sein; sie kann die eigene Entwicklung so sehr belasten, dass man das Gefühl der Unterdrückung hat. Sie will dir immer wieder sagen, was du zu tun hast, wie du zu sein hast oder schlimmer: wie du dich zu fühlen hast. So fühlte es sich jedenfalls für mich an.

Selbstakzeptanz

Guess what? Seit ich dieses Nachfragen nicht mehr habe, geht es mir deutlich besser. Ich bin keine Versagerin, ich hatte nur eine andere Entwicklung als andere. Das stelle ich vor allem immer wieder in Gesprächen mit Arbeitskolleginnen fest. Ich bin offen geoutet auf der Arbeit, weil auch das für mich sehr wichtig war. Denn nur so kann ich mich – ohne falsche Erwartungen an meine Person, wegen der Heteronormativität[3] – frei bewegen. Auch hier, das ist nur für mich so. Entscheide bitte selbst, was für dich richtig ist.

Das ist auch eigentlich schon das Schlusswort: Du bestimmst dein Tempo. Tu nur das, worin du dich zu 100% wohl fühlst. Niemanden hat dein Beziehungsstatus, deine Sexualität o.ä. zu intressieren, außer du entscheidest es, den Personen zu erzählen. Wichtig ist auch eine klare Kommunikation, wenn dir etwas zu privat oder persönlich ist. Und noch was: Es ist komplett egal, wann du deinen ersten Kuss, dein erstes Mal Händchen halten, deine erste Bezeihung oder deinen ersten Sex hast. Oder, ob du daran überhaupt Interesse hast. Denn nur du allein bestimmst das Tempo und wenn du noch nicht bereit dafür bist – oder niemals dafür bereit sein möchtest –, dann ist das vollkommen okay. Denk immer daran: Du bist nicht allein. Lass dir das von der 31-jährigen Tante sagen, die quasi „die Jugend nachholen“ muss. Aber im eigenen Tempo.

Ach ja, es ist im Übrigen auch vollkommen okay, wenn du an gar nichts Interesse, was ich hier thematisiert habe. Denn auch die Erwartung eine Beziehung, Sex oder Kinder haben zu müssen, ist in unserer Gesellschaft sehr fest verankert. Daher auch hier: Don’t stress yourself! Es ist vollkommen legitim und valid, wenn du gar nichts davon als Ziel in deinem Leben hast.


Quellen

[1] Heteronormativität von Bettina Kleiner | gender-glossar.dehttps://gender-glossar.de/h/item/55-heteronormativitaet • Abrufdatum: 12.09.2020, 21:25 Uhr
[2] Nie Lust auf Sex – Das Phänomen Asexualität | www.swr.dehttps://www.swr.de/swr2/leben-und-gesellschaft/broadcastcontrib-swr-15036.html • Abrufdatum: 12.09.2020, 22:13 Uhr
[3] Heteronormativität | www.diversity-arts-culture.berlinhttps://www.diversity-arts-culture.berlin/woerterbuch/heteronormativitaet • Abrufdatum: 12.09.2020, 22:56 Uhr